Im Visier 2212
Zugrunde liegender Roman: Hubert Haensel - Menschheit im Aufbruch
Vorbemerkungen und Plot
Formales:
Fast eine kleine Überraschung: Ein Titelbild von Ralph Voltz, bei dem mir Komposition und Farbgebung gefallen. Nur das braune Männchen im Vordergrund will noch immer nicht so recht an einen (vermutlich) Menschen erinnern. Wo mag bloß der rechte Fuß hingehen?
Plot:
Der älteste Terraner, Homer G. Adams, stellt sich die Gewissensfrage, ob er sich zur Feier seines 3000.Geburtstages lieber von Monkey anerkennend auf die Schulter klopfen oder von Bully an den Ohren ziehen lassen will. Mehrtausendjährige Erfahrung verraten ihm, dass seine Überlebenschancen bei Zweiterem doch erheblich größer sind.
Geheimnisträger und stellvertretender Chef der nUSO hin oder her, (außerdem hat er sein Privatvermögen anscheinend in LFT-Aktien und nicht USO- oder Taxit-Aktien angelegt) beschließt er Terra und die LFT vor dem drohenden (Finanz-)kollaps zu retten.
Dort bringen sich reihenweise Börsengurus und Spekulanten um, als die Börsenkurse sich umgekehrt proportional zur Hyperimpedanz verhalten.
Zur Feier des Ehrentages veranstaltet die Hyperimpedanz noch ein schönes buntes Feuerwerk beim Einflug von Adams Schiff ins Sonnensystem. Nach der Zollabfertigung in Terrania-Spaceport, wo gerade alle psychopathischen Zöllner ausgegangen sind, fachsimpelt Adams mit seine Taxi-Fahrerin und wird zu den terranischen Führungskräften Mondra Diamond und Bre Tsinga gebracht. (Der Erste Terraner, Tifflor und Kantor sind ebenfalls nicht weit weg.) Nachdem Adams sein Reformprogramm ("wir werden in die Hände spucken und die Karre wieder aus dem Dreck ziehen") detailliert vorgestellt hat, wird er vom Ersten Terraner als Residenzminister für Finanzen, Wirtschaft und Alles-was-grad- in-den-Plot-passt angelobt.
Syntrons, Transmitter und High-Tech fallen aus, laut Kantors Raucherstäbchen hat die Hyperimpedanz aber ihren Höhepunkt und Endzustand erreicht. Die Infrastruktur ist zusammengebrochen, die Wetterkontrolle außer Kontrolle, Kühlschranke ohne Syntrons lassen sich nicht mehr schließen, Fenster nicht mehr öffnen, und das Finale von Terrania-Sucht-den-Superstar wird unterbrochen, als nach dem dritten Anruf das Telefonsystem wegen Überlastung zusammenbricht...
Dafür werden vermehrt Ärmel hochgekrempelt, der Flaschenzug neu erfunden, Räder an Schwebegleiter geflanscht und 100000 Klonelefanten in Auftrag gegeben, um diese auch zu ziehen. Oder so ähnlich.
Und während Adams und Tiff stolz auf ihre tapferen Terraner blicken, greift schon der böse Gott Gon-Orbhon nach der Erde, schickt seine Priester und Prediger aus, um die Ankunft des Wahren Gottes zu verkünden.
Tei 2
Rezension
Positives:
Es verwundert mich vielleicht am allermeisten, aber: ich habe diesen Roman gerne und mit Freuden gelesen. Es war eine angenehme Lektüre, in der ein Autor seinen Federkiel/seine Tastatur in eine bekannte Welt eintaucht und dort gehörig umrührt.
Der sträflich vernachlässigte Adams bekommt endlich wieder mal eine größere Rolle, Tifflor mutiert wieder zum PR-Ersatz und muss sich nicht unbedarft durch eine Blues-Welt schlagen oder als Reittier für Museums-Azubis zur Verfügung stellen.
Die Lichter gehen aus, und die armen Terraner tun dem geneigten Leser doch tatsächlich leid.
Die Lichter gehen aus, und Streiflichter beleuchten das neue Leben auf dem Bald-Wieder-Agrar-und-Industrieplaneten Terra.
Ein paar Action- und Special-Effects-Szenen lockern das düstere Stimmungsbild auf. Die Solare Residenz wassert und ein netter Transmittertechniker erleidet ein trauriges und tragisches Schicksal.
In mancher Hinsicht vielleicht der bisher lesbarste und interessanteste Roman des aktuellen Zyklus.
Neutrales:
Vor nicht allzu langer Zeit verließ PR "seinen" Platz am Sternentor, um schnell mal ein kleines Zwischenabenteuer einzulegen. Diesmal verlässt Adams "seinen" Job als eigentlich kaum entbehrliches USO-Mitglied und Taxit-Chef. In einer recht militärischen Organisation wie der USO könnte das durchaus als Dessertation ausgelegt werden. Aber außer ein "Terra braucht mich vermutlich mehr" gibt's dazu keine Äußerung. Adams gibt weder uns noch den LFT-Chefs einen überblick über die Lage in der USO und der restlichen Galaxis, soweit es ihm bekannt ist.
Die Solare Residenz wassert, aber nicht vorbeugend (man weis ja nicht...), sondern weil anscheinend unvermutet die Schwebe- batterien leer sind.
PR hat, auch wenn ihm meist nicht geglaubt wurde, in den letzten 20 Jahren großmaßstäbliche Vorbereitungen für den Fall des Falles getroffen, ein 22km Großraum-Modulschiff bauen lassen, zig-tausende Posbi-Boxen bekommen und bemannt, mit zigtausenden Alttechnik-Reaktoren und Energielieferanten. Wie immer er diese Ausgaben auch durch Parlament, diverse Finanzausschüsse und Sensationspresse durchgeschmuggelt hat.
Eine ein paar dutzend oder hundert Posbi-Boxen samt Reaktoren auch im Sol-Systemen zu stationieren, lässt er dort doch tatsächlich die Lichter ausgehen. Nach 20 Jahren und dem Riesenbrocken PRAETORIA sind die im Roman angesprochenen 3% des tatsächlichen Bedarfs zur Verfügung stehenden Energien arg bescheiden.
Innerhalb von Minuten (?) wird für Adams schnell mal ein Ministerium geschaffen. Wie da wohl, vor allem angesichts der tristen Lage, so schnell die notwendige Infrastruktur und Hierarchie geschaffen wird? Welche Mitarbeiten stehen dem neuen Minister zur Verfügung, welche Infrastruktur, welche Kompetenzen? Außer einem Schreibtisch mit zweifelhaften Computeranschluss scheint er nicht viel zu benötigen, der neue Oberguru auf Erden. Hoffentlich wissen auch die Kraft- werkstechniker in Sibirien und Norwegen, die Stadträte in Amsterdam und Boston, die lokalen Behörden auf dem Mars und Jupiter von dem neuen Kompetenz-Konzept innerhalb der LFT- Führung.
Schön, dass Adams "wieder da" ist. Aber ob es unter den gegebenen Umständen viel Unterschied ausmacht, ob ein weiterer Schreibtisch in der Verwaltung besetzt wird?
Negatives:
Ist ja gut und interessant zu leben, aber befinden wir uns wirklich noch im altbekannten Perryversum?
Der Erste Terraner scheint zu einem reinen Repräsentations- oberhaupt ähnlich einem deutschen oder österreichischen Bundespräsidenten verkommen zu sein. Der neue Minister anlobt, die dabei auch noch eine etwas seltsam anmutende Phrase über den alleinigen Gott murmeln. Das las sich schon den 700ern Heften (Vater Ironside) ganz anders, und Adams ist einer der letzten, bei dem ich mir tiefe Glaubens- Lippenbekenntnisse erwarten würde.
20 Jahre lang warnt der Residenz vor der kommenden Katastrophe. Seit wesentlich mehr Jahren lebt man mit der Gefahr von Korra- Vir, hat schon mehrere Anschläge miterlebt. Vor gerade 100 Heften hat die Regierung selbst den Syntron-Killer losgelassen, um Trah Rogues Nano-Invasion noch stoppen zu können. Da war der großmaßstäbliche Syntron-Ausfall noch mehr eine vorübergehende Unannehmlichkeit. Die Redundanz-Systeme von damals, die Fail-Safe Vorrichtungen und Work-Arounds scheint man in der Zwischenzeit allerdings wieder abgebaut und entfernt zu haben. Oder hat man das "unnütze Zeugs" in PRAETORIA eingebaut?
Gleiter lassen sich ohne Syntrons nicht mehr gut genug (präzise) manövrieren, haben anscheinend keinen "manuell"-Modus. Und das standardmäßig. Sehr vernünftig, wenn KorraVir und böse Kosmokraten jederzeit zuschlagen können.
Schon möglich, dass im Perryversum Syntroniken zuletzt schneller, billiger und einfacher zu produzieren waren als Positroniken, aber zumindest sensible Bereiche sollten in einer Zeit, in der Energie nur seeeehr wenig Kosten verursacht und Rohstoffe ebenfalls synthetisiert werden können, ein unabhängiges Redundanzsystem aufweisen. Oder hat der Resident die dafür bereitgestellten Mittel heimlich umgeleitet? Etwa in den Bau von PRAETORIA? (Wäre doch tatsächlich der Versuch einer Erklärung. Und ein guter Grund, den Residenten hinterher wieder mal für ein paar hundert Bände in die Wüste zu schicken, wo er dann viel glaubwürdiger an vorderster Front in irgendwelche Risikoeinsätze gehen könnte.)
Die galaktische Börse crashed. Und Spekulanten, die Hab und Gut verlieren, stürzen sich in die gezückte Klinge. Irgendwie kommt mir bei dem Szenario, diesem Wirtschaftshintergrund doch ein wenig die Skepsis hoch.
Noch einmal: Energie durch Zapfer und ähnliche Handwedelei nahezu unbeschränkt und billigst zu haben. Rohstoffe werden synthetisiert. Arbeiten wie Fertigung und Produktion werden von Robotern erledigt, die sich auch gleich mal selbst reproduzieren dürfen. Die Verwaltung besorgen Nathan und seine Sub-Syntroniken. Arbeiten ist für die meisten wohl eher ein Hobby.
Wie wird sich eine galaktische Börse wohl etablieren, welche Nische wird sie sich einrichten können? Welche technologischen Beschränkungen erlegt man sich selbst auf, damit das Börsewesen "funktioniert"? Und wie bringen die aktiven, weiterhin an Geld interessierten Macher die Masse dazu, deren Geld in irgendwelchen Aktion zu investieren? Die Grundversorgung sollte doch für alle und jedermann vorhanden sein, noch größerer Reichtum oder Reichtum und Geld überhaupt, zwar immer noch ein Anreiz für manchen sein, aber eher nicht für die große Masse.
Wenn man den Dax oder Nasdaq oder was auch immer schon nahezu eins-zu-eins in die Zukunft überträgt, wären ein paar Gedanken und Überlegungen, welches größere Umfeld dann ebenfalls notwendig ist, schon gut und schön.
Da mag ein Autor zwar denken, dass der sicher intensive Aufwand und "Denkprozess" die Sache nicht wert ist, nicht für einen Heftroman, der zwischen U-Bahn, Schultischlade und Stillem Ort verschlungen wird, aber unter den 100000 Lesern werden dann doch ein paar dabei sein, die anfangen, lästige und ärgerliche Fragen zu stellen.
Und pünktlich zur Katastrophe stellt sich noch ein zwielichtiger Sektenguru ein, dem die Menschen in Scharen zulaufen. Ob dieses Szenario zur Abwechslung nicht vielleicht auf Arkon besser aufgehoben gewesen wäre?
Und zuletzt bleibt die Frage, welchen "Aufbruch" die Menschheit gerade erlebt? Abgesehen vom Zusammenbruch und Niedergang und dem Wissen des Lesers, dass die Jungs und Mädel von der guten alten Erde nicht allzu lang gestrandet in ihren Erdhöhlen dahin- vegetieren werden?
Fazit:
Guter Roman, der einem Expose gehorchen muss, dass Teil einer Entwicklung ist, die neben einigem Potenzial auch so manchen Missmut und Skepsis hervorruft. Die Hyperimpedanz wird immer deutlicher zum Reset-Knopf, dessen Drücken es den Machern wieder erlaubt, Geschichten und Abenteuer zu erzählen, wie sie vor vielen Jahrzehnten zu ungeahnten und großem Erfolg führten. Aber womöglich macht "man" es sich damit zu einfach, und das Rad der Geschichte lässt sich weder zurückdrehen noch wiederholen.
Das nagende Gefühl bleibt, dass man uns Lesern (mir!) etwas weggenommen hat, das bei allen Problemen und Ausuferungen Teil der Seele des Ganzen war. Wer die _alten_ Geschichten noch einmal lesen will, nur stilistisch besser oder auch nur der heutigen Zeit angepasst, der könnte auch zu den Silberbänden greifen, die doch genau das tun sollten.
Rudolf